August 2003 Umweltbrief.org Gorbatschow: "Eine bessere Welt ist möglich" ____________________________________________ Michail Gorbatschow, der wohl größte Weltveränderer nach 1945, sagt heute: "Mit dem Umweltschutz habe ich das Thema meines Lebens gefunden." Bei einem Deutschland-Besuch verkündet er: "Die Welt in ihrem heutigen Zustand ist nicht nachhaltig. Sechs Milliarden Menschen wollen so leben wie die US-Amerikaner, aber bevor wir dieses Ziel erreichen, kollabiert der Planet. Wir brauchen also einen grundlegenden Wandel. Umweltschutz ist auch in Russland das Problem Nummer eins. Forschung und Wissenschaft sind inzwischen ganz stark dabei," sagt er und fügt kokett hinzu: "Ökologie und Umweltschutz sind zu wichtig, um sie den Politikern zu überlassen." Im Westen ist unbekannt, dass Gorbatschow zu seiner Regierungszeit 1.300 Betriebe geschlossen hat – aus ökologischen Gründen. "Es gibt Wichtigeres als Arbeitsplätze", sagt er heute: "Eine saubere Umwelt, unsere Lebensgrundlagen." Kein Politiker hat in den letzten 20 Jahren so sehr die Welt verändert wie Michail Gorbatschow. Aber heute analysiert er: "Wir führen einen Krieg gegen die Natur und damit gegen uns selbst. Diesen Krieg müssen wir beenden." Wenn wir die ökologische Krise nicht meistern, dann erübrigen sich alle weiteren Anstrengungen. Umweltschutz sei nicht alles, aber ohne Umweltschutz sei alles nichts. Viele anwesende deutsche Politiker sind bei solchen Reden pikiert und mancher Industrieboss schaut verlegen, wenn Gorbatschow als Präsident des von ihm gegründeten "Grünen Kreuzes" beklagt, dass die Industriestaaten über ihren unverantwortlichen Ressourcenverbrauch die Umwelt ausbeuten und die Zukunft unserer Kinder verbrennen. "Die USA sind in vielerlei Hinsicht eine Weltmacht, aber nicht in moralischer Hinsicht", formuliert er. Und fügt hinzu: "Eine Politik ohne Gewissen und Moral ist verwerflich." Den Krieg im Irak hält er für ein Verbrechen und die Umweltpolitik von George W. Bush für eine Katastrophe. In seinem neuen Buch "Mein Manifest für die Erde", das soeben in deutsch erschien, begrüßt Gorbatschow, dass Slobodan Milosewic vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt wird - aber genauso deutlich stellt er eine im Westen ganz unerhörte Frage: Warum werden nicht auch diejenigen angeklagt, die Serbien bombardiert haben: Also der amerikanische und der französische Präsident, der englische Premier und der deutsche Bundeskanzler? Gorbatschow ist noch immer ein begnadeter Tabu-Brecher. In diesen Tagen forderte er einen internationalen ökologischen Gerichtshof. "Umweltverbrecher müssen weltweit bestraft werden so wie Kriegsverbrecher", sagt er. Gorbatschow meint, wirklichen Frieden könne es nicht geben, solange die NATO über 100 mal mehr Geld verfüge als die UNO. Er mahnt weitere Abrüstung an. "Die Welt hat andere Probleme als militärische Rüstung", sagte er auch jetzt wieder in Ludwigsburg, wo er den „Euronatur-Preis 2003“, erhielt. Der Terrorismus könne nicht militärisch überwunden werden, sondern nur mit mehr Gerechtigkeit. Die Globalisierung laufe in eine falsche Richtung, sie habe noch mehr Ungerechtigkeit zur Folge. Das bedeute weiteren Terrorismus. Gorbatschow lobt Nichtregierungsorganisationen wie die globalisierungskritische Attac und ruft zu weltweiten Bürgerbewegungen und Bürgerprotesten gegen das Hegemoniebestreben der heutigen US-Regierung auf. Geschickt differenziert er zwischen dem Volk der USA und seiner derzeitigen Regierung. Ganz im Sinne von Attac erklärte er: "Eine bessere Welt ist möglich. Das ist meine Überzeugung und mein Gebet." Der Irak-Krieg der Herren Bush und Blair war für Gorbatschow ein Krieg um Öl. Die Ressourcenfrage ist für ihn die Frage über Krieg oder Frieden im 21. Jahrhundert. Die Tatsache, dass Bush und Blair den UNO-Sicherheitsrat beim Irak-Krieg beiseite schoben, wird sich rächen, vermutet er. "Nur politische Chaoten können die Bedeutung der UNO missachten. Die UNO muss und wird stärker werden. Niemand wird es gelingen, der Weltgemeinschaft sein Dominanz aufzuzwingen. Gerade jetzt gibt es tiefgehende, weltweite Veränderungen zugunsten einer stärkeren UNO." In einer Erdcharta, die in Gorbatschows neuem Buch abgedruckt ist, steht die Forderung: "Schäden vermeiden, bevor sie entstehen, ist die beste Umweltschutzpolitik." Das erfordert freilich eine völlig neue Energiepolitik, 100 Prozent Energie aus Sonne, Wind, Erdwärme, Wasserkraft, Biomasse, Strömungsenergie der Ozeane und aus solarem Wasserstoff. Die Frage drängt sich auf: Brauchen wir erst ein zweites Tschernobyl bevor wir aufwachen und alle Atomkraftwerke abschalten? Oder auch: Sind 428 Atomkraftwerke weltweit nicht 428 Einladungen an Terroristen? Auch Michail Gorbatschow treiben diese Fragen um, aber die heutigen Fortschritte bei Wind- und Sonnenenergie in Japan, USA und Westeuropa sind ihm noch unbekannt. Der Untertitel seines neuen Buches heißt: "Jetzt handeln für Frieden, globale Gerechtigkeit und eine ökologische Zukunft." Seine Ungeduld darüber, dass in der Tagespolitik zu viel geredet und zu wenig in seine Richtung gehandelt wird, ist diesem Ex-Politiker bei jeder Rede und bei jedem Interview anzumerken. Auf die Frage: Warum er sich mit 71 Jahren nicht auf seiner Datscha ausruhe, sondern für seine großen Themen Frieden, Gerechtigkeit und Ökologie noch immer rastlos um die Welt reise, meint er: "Wenn Sie die Wahl Ihres Lebens getroffen haben, dann finden sich auch die Zeit und die Kräfte und die Mitstreiter, um die neuen Ideen durchzusetzen." Michail Gorbatschow will ein Lernender bleiben bis zu seinem Lebensende. Einst war er der mächtigste Kommunist, jetzt hat er eine sozialdemokratische Partei in Russland gegründet und nennt sich selbst einen Grünen. Gorbatschow ist und bleibt ein Anhänger der Aufklärung. "Gott hat uns genug Verstand gegeben, die Probleme zu lösen", ist er überzeugt. Am nachhaltigen Wirtschaften führe kein Weg vorbei. Aber heute verbrauchen wir an einem Tag so viel Kohle, Gas und Öl wie die Natur in 500.000 Tagen geschaffen hat. Das ist das exakte Gegenteil von Nachhaltigkeit. Als ersten Schritt zu einer umweltverträglichen Wirtschaft schlägt Gorbatschow ganz pragmatisch vor, dass sowohl die US-Regierung wie auch die russische Regierung sofort das Kyoto-Protokoll unterschreiben, damit es endlich in Kraft treten kann. "Die Menschheit ähnelt heute den Passagieren der Titanic, welche die Stühle von einem Unter- auf ein Oberdeck brachten, während das Schiff versank." Dass die Probleme nicht lösbar seien, bestreitet er entschieden: "Wir stehen heute vor dem Paradoxon, das fast 1 Milliarde Menschen hungern, während die Hälfte der US-Bevölkerung übergewichtig ist und jeder vierte Amerikaner an Fettleibigkeit leidet." An dieser Stelle seiner Vorträge und seines Buches erinnert Gorbatschow stets an die Verantwortung eines jeden Einzelnen. "Eine neue ökologische Ethik verlangt, dass jede und jeder von uns zur Lösung der weltweiten Probleme beiträgt." Seine große Hoffnung heute ist, dass eine wachsende Weltbürger-Gemeinschaft den Politikern neue Wege weist und sie auf neue Wege zwingt. "Mein Manifest für die Erde" von Michail Gorbatschow ist ein lesenswertes, ein mutmachendes Buch. Es gibt in der Politik Wichtigeres als Politiker, schreibt er, nämlich aufgeklärte Bürger und wache Wähler. Heute kämpft Gorbatschow für eine globale Perestroika und weltweit für Glasnost. http://www.sonnenseite.com/fp/archiv/Art-Zukunft/3587.php Vertrauen wir dem Mann des 20. Jahrhunderts, dem Mann, der immerhin den Ost-West-Konflikt gelöst hat.